Wortkunst | Evangelium beim Gottesdienst zum Ehrenamtlichentag 2022

von Judith Baumann

Deinetwegen – Meinetwegen

Ich stehe am See, wie jeden Tag,
an dem Ort, den ich besonders mag,
denn hier ist alles so vertraut.
Heute ist wie gestern,
zusammen mit meinen Brüdern und Schwestern
und morgen wird wie heute sein – jedenfalls bilde ich mir das jetzt noch ein.
Am Ufer die Boote, eins ist von mir, das andere den Zebedaiden,
ach, wären wir doch letzte Nacht zu Hause geblieben,
denn wir haben ja doch nichts gefangen.
Also räumen wir das Zeug zusammen
und versuchen es in der nächsten Nacht nochmal,
jetzt am Tag zu fischen, das wäre doch total irrational.
Am See herrscht heut Gedränge, also ziehen wir das nicht in die Länge,
im Haus gibt es sicher genug zu tun,
ansonsten hätt‘ ich auch nichts dagegen, mich mal auszuruhen.

Und plötzlich spricht er mich an,
aus der Menge, der von vielen umlagerte Mann.
Der hat mir ja gerade noch gefehlt,
für so viele Menschen, habe ich doch gar keine Affinität.
"Simon", sagt er, "bring mich raus auf den See,
die Menge kann mich so besser sehn und verstehn."
Nun, was solls, bringen wir den Meister raus auf den See,
der entspricht so gar nicht dem Klischee,
spricht am meisten von Liebe anstatt der sündigen Triebe.
Er lehrt die Menge dort am Ufer,
die steht gebannt und es gibt kaum Zwischenrufer.
Dann wendet er sich direkt an mich, schaut mir ins Gesicht und meint:
„Fahr hinaus und wirf die Netze aus.“
Zuerst glaube ich, ich habe mich verhört und erwidere leicht empört:
„Diese Nacht haben wir alles versucht und nichts gefangen.
Aber wenn du meinst, will ich noch einmal anfangen,
deinetwegen werfe ich die Netze aus.“

Mit meinen Leuten fahre ich also noch ein Stück raus,
doch Hoffnung mache ich mir kaum.
Keine Minute später kann ich meinen Augen nicht trauen:
die Netze sind voll, nicht nur gefüllt, sondern zum Zerreißen gespannt.
Ich starre ins Wasser wie gebannt, halte die Netze mit einer Hand
und versuche den anderen zu verstehen zu geben,
sie sollen sich schleunigst zu uns bewegen,
helfen, den großen Fang zu heben.
Wow, ist das viel.
Was für ein Schauspiel: die Fische, meine Leute, die Boote
und da stehst du wieder neben mir,
deinetwegen will ich‘s versuchen, hatte ich gesagt
und nicht zu träumen gewagt, dass es sich lohnt.

Doch irgendwie wird mir klar: da ist noch mehr.
Und mir wird das Herz ganz schwer.
Ich fühle mich geehrt, doch ich bin das ganze doch gar nicht wert.
Ich bin ein sündiger Mensch. "Herr, geh fort von mir!"
Doch du bleibst und du zeigst: du meinst mich.
Sola gratia, meinetwegen hast du dich hierher begeben,
du willst der Kapitän sein für mein Leben.
Ich sehe dich an
und du siehst mich nicht nur an, du siehst in mich hinein,
siehst all meine Fragen, meine Fehler, meine Gedanken, meine Schuldgefühle,
die mich nachts plagen.

In all meine Zweifel sprichst du hinein:
„Hab keine Angst, du wirst ein Menschenfischer sein.
Komm, folge mir nach. Ich bin bei dir, jeden Tag,
jede Stunde, jede Sekunde ob hell oder dunkel,
ob einsam oder mit anderen gemeinsam,
ob gemocht oder gemobbt,
ob voll Träumen & Visionen oder noch im Kampf mit Enttäuschungen & Dämonen
und an deinen schlimmsten Tagen werde ich dich einfach tragen.“
Ich staune über dein Vertrauen,
diese Erde mitzugestalten und nicht nur Mist zu bauen.
Und so mache ich mich auf den Weg, dorthin, wo du mich brauchst,
deinetwegen mache ich mich auf, auf deinen Weg,
denn du bist bei mir – meinetwegen.

© Judith Baumann 2022