Die Fenster stehen offen, frische Luft flutet den überheizten Klassenraum. Die Hände der Lehrerin schwingen auf und ab, wir nehmen den Rhythmus auf, singen kraftvoll, unsere Kindermünder sprechen die Worte überdeutlich in die Luft. „Musik" steht auf dem Stundenplan. Der Eifer färbt die Wangen rot. Plötzlich huscht ein Schatten über das Gesicht der Lehrerin, ihre Augen springen von Kind zu Kind. Sie bricht ab: „Da brummt jemand." Sie sieht mich mit strengem Blick lange an, schweigt, denkt nach und sagt: „Bitte bewege du nur deine Lippen, aber singe nicht mit." Mein Gesicht wird dunkelrot, die anderen kichern laut. Sie hebt wieder beide Hände, summt einen Ton, alle singen, ich schweige und bewege meinen Mund, denke an den Fisch im Schulaquarium. Nach dieser Stunde werde ich vom Singen befreit. „Für immer", steht im Brief an meine Eltern, die trösten mich: „Brummen? Dafür kannst du nichts." In der letzten Schulstunde sitze ich ab sofort in einer Ecke und lausche dem Gesang. Alle haben rosa Wangen, ich fühle mich fahl.
"Ich kann nicht singen", teile ich unserem Pastor mit, als der Konfirmandenunterricht beginnt. „Der brummt doch", sagt jemand laut in die Stille. Ich lache mit den anderen mit, sicherheitshalber. Die Texte muss ich trotzdem auswendig lernen. „Für die Prüfung", sagt der Pastor. Die anderen in der Gruppe behaupten, sie seien auch „Brummer". Zum Beweis grölen sie das Lied, das der Pastor anstimmt, singen wie auf dem Fußballplatz. Alle haben Spaß, nur der Pastor nicht, und ich muss schweigen, leider. „Selbst schuld, hättest ja nichts sagen müssen", grinst mein bester Freund und stimmt lustvoll in das Gegröle ein.
"Kann jemand beim Stimmen der Orgel helfen?", fragt der Pastor einige Wochen später. Alle schweigen, niemand meldet sich. Da strecke ich meinen Arm nach oben, sofort darf ich den Unterricht verlassen. „Streber", höre ich hinter mir und bin neugierig auf meine Aufgabe. Der Organist wartet schon. Ich soll mich auf die Orgelbank setzen und eine Taste drücken, bei „weiter" dann eine nächste. Er erklärt mir die Reihenfolge, klettert durch ein Türchen und verschwindet in die Orgel. Auf „weiter" geht es los. Irgendwann kommt der Mann wieder zum Vorschein und verkündet: „Pause." Morgen soll ich bitte wiederkommen, am Ende wird es zehn Mark geben.
Am nächsten Tag bin ich pünktlich, drücke die Tasten und höre die Töne, verfolge mit den Ohren, wie er den schrägen Klang wieder geradebiegt. Viele Töne gefallen mir richtig gut, vor allem die ganz dunklen, die vibrieren in meinem Bauch. Plötzlich ruft er: „Singst du den Ton gerade mit? Du bringst mich damit durcheinander." Mein Atem stockt, ich verstumme. "Bitte nicht mitsingen", höre ich immer wieder. Am Ende sagt er „Danke". Ich halte den Geldschein in der Hand, will gehen, zögere, würde gerne noch weitermachen.
"Ich zeig dir das mal!", sagt er und beginnt zu spielen. „Sing mal diesen Ton", fordert er mich auf. Dann spielt er eine Tonleiter, die ich nachsingen soll, und dann stimmt er mit der Orgel „Lobe den Herrn" an. Den Text kenne ich schon, für die Prüfung. Als ich singe, ist es, als ströme frische Luft in mich hinein, ich bemerke meine roten Wangen, das ist peinlich. „Ich denke, du solltest im Jugendchor mitsingen", sagt er und schreibt mir Ort und Uhrzeit auf. „Ich kann nicht singen, ich brumme", sage ich automatisch. Er sieht mich lange an, schweigt, lächelt und sagt nur: „So ein Quatsch.
Quelle: „Luft holen!“. Sieben Wochen ohne Panik. Das Lesebuch zur Fastenaktion 2025. © edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt 2025